Ana Miranda: Clarice Lispector - Der Schatz meiner Stadt
Clarice Lispector gehört zu den wenigen Schriftstellerinnen dieses Jahrhunderts, die mit ihrem narrativen Werk neue Maßstäbe setzten - weit über ihre brasilianische Heimat hinaus. Ihr gesamtes Werk, das größtenteils auch in deutschen Ausgaben vorliegt, kreist um das Spannungsverhältnis des Daseins zwischen Außenwelt und eigenem seelischen Erleben. Für die Mehrzahl ihrer weiblichen Figuren entwickelt sich daraus ein Prozeß, der zur Aufhebung gewohnter Bindungen und Konventionen führt.
Zugleich aber ist Clarice eine x-beliebige Frau, die in Rio de Janeiro lebt. In einem Bogen fotografisch präziser Stilleben zeichnet Ana Miranda ein eigenwilliges literarisches Porträt der Schriftstellerin, sondiert ihren Alltag und ihre Sehnsucht. Da ist die Stadt, die sie beobachtet und auf unverwechselbare Weise kartographiert, da ist die leidenschaftliche Hingabe an ein Ding, einen Namen, die Vorstellung eines Seins, das sich jeden Tag aufs neue erfindet und definiert. Zum ersten Mal wird für das deutschsprachige Publikum der Raum transparent, in dem Lispector sich bewegte und ihre Gestalten "existieren ließ, um selber zu existieren."
Ana Miranda, Jahrgang 1951, lebt und arbeitet als freie Schriftstellerin und Journalistin in Rio de Janeiro. Mit ihrem Roman "Das Höllenmaul", der in neun Sprachen übersetzt wurde, landete sie ihren ersten internationalen Erfolg und wurde auch in Deutschland bekannt. Wie Clarice Lispector begreift sie sich seit ihrer Kindheit als wurzellos, was sich in ihren Werken, vor allem den weiblichen Hauptfiguren, widerspiegelt.
Textauszug:
Clarice erhält die Nachricht vom Tod ihres Vaters und läuft halb erstickt aus dem dunklen Haus der Tante. Sie erbricht sich zwischen den Felsen, während der starke Wind ihren zerbrechlichen pubertierenden Körper peitscht. Clarice reißt die Augen auf, als stünde sie vor einem Abgrund, und betrachtet das gedrängte, rebellische Meer, das sich auf dem schweigsamen Sand ausstreckt wie ein lebendiges Wesen. Etwas Großes kommt vom Meer herüber und verursacht zuerst eine Verkrampfung, dann eine Entspannung in ihrem Körper. Und sie trinkt das Meer und beißt das Meer. Der Vater ist gestorben. Das Meer ist tief. Der Vater ist gestorben. Man kann den Meeresgrund nicht sehen. Bäuchlings gibt sie sich dem Sand hin, gibt sich dem Rauschen der Wellen hin, das Rauschen kommt in Wellen, die sich überschlagen, lärmende Nattern.