Neben seinen großen Romanen und Erzählungen
hat Thomas Mann ein nicht
weniger eindrucksvolles betrachtendes
Werk geschaffen, das bislang nicht im
gleichen Maß beachtet worden ist. Dabei
hat er sich von Anfang an während seines
ganzen Lebens mit kulturellen, gesellschaftlichen
und politischen Strömungen
auseinandergesetzt, fremde Thesen in
Frage, eigene zur Diskussion gestellt -
nicht zuletzt, um sich auf diese Weise,
darin Montaigne und anderen ähnlich,
selbst darzustellen, bekanntzumachen
und Gleichgesinnte zu erreichen. Er hat
dies als eine wesentliche Aufgabe des
Schriftstellers in seiner Zeit verstanden.
Daß er beim Leser Detailkenntnisse voraussetzte,
zitierte, ohne auf Autor und
Quelle eigens hinzuweisen, hat in der
Essayistik Tradition. Spätere Generationen
haben es schwer, das Geflecht von
Original und Zitat zu durchschauen.
Thomas Mann hat zudem seine Essays
nicht selten überarbeitet und sie so, der
Forderung des Tages gemäß, in seine
eigenen Sammlungen von Betrachtungen
aufgenommen.
Aufgabe und Ziel dieser neuen, textkritisch
durchgesehenen Ausgabe ausgewählter
Essays ist es, den Blick konzentriert
auf diesen Teil des Werkes zu
lenken, ihn durch Erklärungen von historischen
Zusammenhängen sowie durch
Zitat- und Quellennachweis leichter
verständlich zu machen. Voraussetzung dafür war es, stimmige Bände zusammenzustellen,
die ein kontinuierliches Lesen ebenso
ermöglichen wie ein Wiederentdecken
besonders interessanter Anschauungen -
und zwar in der ursprünglichen Fassung des
Erstdrucks. Thomas Mann selbst hat seine
Reden und Aufsätze für die Buchausgaben
nach Themen geordnet. Hermann Kurzke
und Stephan Stachorski haben statt dessen
die Chronologie gewählt, die Anordnung
also, die bei einer Auswahl aus dem betrachtenden
Werk nicht nur die Entwicklung
Thomas Manns als Essayist aufzeigt, sondern
seine unmittelbare Reaktion auf Phänomene
seiner Zeit dokumentiert. Dies geschieht
nicht zuletzt dadurch, daß die Herausgeber
auch solche Texte aufnehmen, die
Thomas Mann selbst nicht in seine Buchausgaben
integriert hat und die z. T. auch später
nicht wieder gedruckt wurden.